„Die Finanzmärkte werden von zwei Themen dominiert – die US-Wahlen und Covid-19. Andere Themen wie zum Beispiel der Brexit treten momentan vollkommen in den Hintergrund. Wir gehen aktuell von vier Szenarien aus:
- Das schlimmste Szenario bei den US-Wahlen wäre ein Patt zwischen beiden Kandidaten. Dies könnte zu Unruhen führen und die nationale Sicherheit bedrohen. Ein mögliches Konjunkturpaket würde in weite Ferne rücken – Anleger blieben im Unklaren.
- Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass Joe Biden Präsident wird und die Demokraten zusätzlich auch die Mehrheit der Sitze im Senat holen. Da sie auch das Repräsentantenhaus kontrollieren, könnte Biden in dieser Konstellation durchregieren. Ein solches Szenario würde nicht auf Gegenliebe der Märkte stoßen, da Biden höhere Unternehmenssteuern plant, dazu strengere Vermögenssteuerregelungen und mehr Regulierung, insbesondere im Hinblick auf die Energiewende. Trotzdem würden sich die Investoren in Anbetracht der derzeitigen Lage mit Bidens Programm früher oder später abfinden: Denn in Anbetracht der Covid-19-Krise dürfte eine demokratische Regierung schnell ein groß angelegtes Konjunkturprogramm in Höhe von rund 15 Prozent des BIP verabschieden. Außerdem wäre Biden gezwungen, seine geplanten Steuermaßnahmen zurückzustellen.
- Das beste Szenario aus Sicht der Finanzmärkte wäre ein Sieg für Joe Biden als Präsident, aber eine Niederlage für die Demokraten im Senat. Dann müsste die neue Regierung ihre umstrittenen Steuerpläne anpassen.
- Das unwahrscheinlichste Szenario ist ein erneuter Sieg von Donald Trump – auch wenn die Märkte dafür wären.
Covid-19 wird auch nach den US-Wahlen das dominante Thema bleiben. Die wirtschaftliche Erholung der USA und Europas steht auf dem Spiel. Die Rekordzuwächse im dritten Quartal von bis zu 30 Prozent im Jahresvergleich in den USA und Europa machten Hoffnung. Im 4. Quartal allerdings werden sowohl die USA als auch Europa wohl in eine Rezession schlittern, deren Ausmaß schwer vorherzusagen ist. China hingegen scheint die Gesundheitskrise überwunden zu haben, und die Wirtschaft bewegt sich auf das Vorkrisenniveau zu.
Die Prognosen für die Unternehmensgewinne im Jahr 2021 (rund 25 Prozent in den USA, 45 Prozent in der Eurozone) werden noch einmal nach unten korrigiert werden. Das erschwert momentan die Bewertung der Aktienmärkte. Wir raten Anlegern deshalb, ihre Aktienanlage mittel- bzw. langfristig zu betrachten. Unter der Annahme, dass diese Krise irgendwann abklingen wird und sich die Unternehmensgewinne innerhalb der nächsten sieben Jahre wohl verdoppeln werden, was angesichts der historischen Unternehmensperformance eine reale Möglichkeit darstellt, würden die Gesamtgewinne der im S&P 500-Index gelisteten Unternehmen in einigen Jahren etwa 275 USD pro Aktie und die im EuroStoxx Large-Index 35 EUR pro Aktie erreichen.
Da die Zinssätze aller Voraussicht nach noch lange Zeit niedrig bleiben, ist ein Kurs-Gewinn-Verhältnis von 20 realistisch. Der S&P-Index würde bei etwa 5.500 Punkten und der EuroStoxx Large-Index bei 700 Punkten gegenüber ihren derzeitigen Niveaus von 3.270 bzw. 338 liegen. Im Vergleich zu Anleihen sind das attraktive Aussichten.
Für die kommenden Tage rechnen wir mit weiterhin volatilen Märkten. Wenn die Aktienkurse um weitere rund fünf Prozent fallen – also der S&P 500 Index auf 3.050/3.100 Punkte und der EuroStoxx 50 Index auf 2.850/2.900 Punkte – stocken wir unsere Aktienposition auf. Das sollten Anleger auch tun, wenn Sie genügend Barreserven haben und langfristig an das Potenzial von Aktien glauben.
Jean-Marie Mercadal, CIO des französischen Vermögensverwalters OFI